Kolonialismus im Kasten revisited

Der folgende Text ist eine Auseinandersetzung mit Überarbeitungen der Dauerausstellung, die seit Fertigstellung unseres Audioguides 2013 erfolgt sind. Zugleich dient er als Orientierungshilfe für Nutzer*innen des Audioguides, damit sie sich angesichts der Veränderungen in der Ausstellung weiterhin zurechtfinden.

Ein weiterer Anlass dafür, dass wir uns erneut kritisch mit der Dauerausstellung des DHM befassen, ist die Eröffnung einer Sonderausstellung unter dem Titel „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Oktober 2016. Das DHM hatte die Planung einer solchen Sonderausstellung zur deutschen Kolonialgeschichte in Reaktion auf die Veröffentlichung unseres Audioguides 2013 öffentlich angekündigt.

Wir sind der Überzeugung, dass eine zeitlich begrenzte Ausstellung über den deutschen Kolonialismus die Probleme der Dauerausstellung, die wir mit unserem Audioguide thematisiert haben, nicht löst – ein Grund, erneut unsere Kritik an der dauerhaften Vermittlung nationaler Geschichte im DHM zu äußern.

Seit der Veröffentlichung unseres kritischen Audioguides im März 2013 hat das DHM einige Veränderungen an der Dauerausstellung vorgenommen. Während genauere Informationen über die für 2018 angekündigte grundsätzliche Überarbeitung der Ausstellung immer noch nicht bekannt sind, hat sich die Museumsleitung offensichtlich entschlossen, an bestimmten Stellen kosmetische Eingriffe vorzunehmen. Besonders in der Vitrine zur Kolonialgeschichte sind einige Objekte entfernt, ausgetauscht und mit neuen Beschriftungen versehen worden. Auch an anderen Stellen im Ausstellungsabschnitt zum Kaiserreich haben sich ein paar Dinge verändert, nirgendwo jedoch so viel wie im „Kolonialkasten“. Ist dies eine Reaktion auf unsere Kritik? Wir wissen es nicht und können darüber nur spekulieren. Eine direkte Reaktion der Museumsleitung auf unser Projekt erfolgte nicht. So sind wir erst durch Nutzer*innen unseres Audioguides auf die Veränderungen in der Ausstellung aufmerksam gemacht worden. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, ob die Neuerungen in der Ausstellung tatsächlich eine gelungene Antwort auf unsere Kritik darstellen.

Vom Germanenmythos zum Kulturnationalismus

Wir gehen in unserem Audioguide nicht darauf ein, aber neben der Säule mit dem Titel „Das Bismarckreich 1871–1890“ (Track 5.2 – Bismarck als Kolonialpolitiker; Track 5.2 – Das Bismarckreich als Kolonialreich) stand bis zur Überarbeitung der Ausstellung ein Modell des von 1838 bis 1875 in der Nähe von Detmold erbauten Hermann-Denkmals. Das über fünfzig Meter hohe Original soll an Arminius erinnern, der im Jahr 9 christlicher Zeitrechnung die germanischen Truppen gegen drei römische Legionen unter Publius Quinctilius Varus anführte. Diese sogenannte „Varusschlacht“ wurde im 19. Jahrhundert zum Gründungsmythos der deutschen Nation stilisiert. „Hermann der Cherusker“ galt als Grundsteinleger einer deutschen Geschichte, die angeblich zweitausend Jahre zurückreichte. Obwohl diese Sichtweise in der Geschichtswissenschaft inzwischen längst als überholt gilt, reproduzierte die 2006 eröffnete Dauerausstellung den Germanenmythos. Der erste Ausstellungsabschnitt trug den Titel „100 v. Chr.–500 Kelten, Germanen und Römer“ und ging unter anderem auf die Varusschlacht ein. Die Miniatur des Hermann-Denkmals platzierten die Ausstellungsmacher*innen so, dass man an ihr vorbei über die Aufgangstreppe hinweg in den ersten Ausstellungsteil zurückblicken konnte, also vom 19. Jahrhundert in die Römerzeit. Diese Sichtachse bekräftigte somit die irrige Vorstellung von einer deutschen Geschichte, die bis in die Germanenzeit zurückreichte.

Die Relikte aus der Römerzeit und das Hermann-Denkmal sind inzwischen entfernt worden. Die „Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen“ beginnt nun erst mit dem „Reich der Franken“ von 500 bis 900 n.Chr. Stattdessen widmet sich der erste Ausstellungsteil „der Veränderung von Grenzverläufen in Europa und der Geschichte der deutschen Sprache“. Der Germanenmythos wurde also ersetzt durch eine sprachliche und geographische Definition dessen, was Deutschsein ausmachen soll. Auf einer Texttafel zur deutschen Sprache heißt es: „Die Bezeichnung des deutschen Volkes und Landes leitet sich von der Sprache her. Seit dem 11. Jahrhundert gab es trotz großer Unterschiede der Dialekte ein politisches Gemeinschaftsgefühl, das auch von außen wahrgenommen wurde.“ Auf den ersten Blick überzeugender als der Germanenmythos, erweist sich jedoch auch diese Geschichte einer sprachlichen und kulturellen Einheit der Deutschen als Konstrukt einer nationalistischen Geschichtsschreibung, denn angesichts der zahlreichen Dialekte konnte von einer sprachlichen Einheit „der Deutschen“ kaum die Rede sein – Hochsprachen blieben bis in die Neuzeit hinein Latein und später Französisch. Von einem politischen Gemeinschaftsgefühl im modernen Sinne zu sprechen scheint ebenfalls unangebracht, waren doch die meisten Menschen von politischer Teilhabe ausgeschlossen. Und die politische Einheit, das Heilige Römische Reich, umfasste, wie die betreffende Texttafel eingesteht, eben nicht nur deutschsprachige Regionen.

Das alles hat zwar zunächst wenig mit Kolonialgeschichte zu tun, verdeutlicht aber, wie stark die Dauerausstellung weiterhin einem nationalgeschichtlichen Narrativ folgt. Solange dieses nicht durchbrochen wird, lässt sich auch die deutsche Kolonialgeschichte nicht angemessen in die Ausstellung integrieren. Uns ging es nie allein oder primär darum, kolonialhistorische Lücken in der Ausstellung aufzuzeigen und diese dann zu füllen. Vielmehr wollten und wollen wir aufzeigen, dass Kolonialismus und somit die Geschichten anderer Weltregionen grundlegend mit dem verbunden sind, was gemeinhin „deutsche Geschichte“ genannt wird. 

Neue Ordnung im „Kolonialkasten“

Die Objekte, die das DHM in seiner Vitrine zur Kolonialgeschichte präsentiert, haben bei uns die Vorstellung von Fundstücken auf dem Dachboden eines ehemaligen Kolonialbeamten hervorgerufen (Track 5.10 – Kolonialkasten). Die Unordnung und der fehlende inhaltliche Zusammenhang zwischen den Objekten verstärkten diesen Eindruck noch. Ein Vergleich der alten mit der neuen Version des „Kolonialkastens“ zeigt: Auf dem Dachboden hat offensichtlich jemand aufgeräumt und dabei kräftig aussortiert. In der gesamten Dauerausstellung hat das DHM nach eigenen Angaben die Anzahl der Ausstellungsstücke von etwa 8.000 auf 7.000 reduziert. Unter den 1.000 aussortierten Gegenständen befinden sich – mit einer Ausnahme – alle Ausstellungsobjekte, auf die unser Audioguide Bezug nimmt: ein Gemälde und zwei Portraitzeichnungen von Walther von Ruckteschell (Track 5.10 – Kilimanjaro; Track 5.10 – Kolonisierte Frauen), das Fotoalbum aus dem Krieg in Deutsch-Südwestafrika (Track 5.10 – Fotoalbum) sowie das Bild aus dem chinesischen Tempel (Track 5.10 – Boxeraufstand). Einige dieser Objekte sind durch andere ersetzt worden. Allein die Uniform des Kolonialsoldaten steht – noch immer kopflos – am selben Platz.   


Vom Kilimanjaro nach Südwestafrika

Links an der Wand in der Vitrine hing ein Gemälde des Kilimanjaro-Gebirges im nordöstlichen Tansania, das 1914 von Walther von Ruckteschell gemalt wurde. In unserem Audioguide dient dieses Bild als Beispiel dafür, dass sich die meisten Deutschen Afrika als menschenleere Wildnis vorstellten und das oft bis heute tun, obwohl gerade die Gegend um den Kilimanjaro schon in vorkolonialer Zeit dicht besiedelt war (Track 5.10 – Kilimanjaro). Anstelle des Gemäldes ist an der linken Wand des „Kolonialkastens“ nun eine vergrößerte Fotografie aus dem genozidalen Krieg der Deutschen in Südwestafrika zu sehen. Sie zeigt deutsche Kolonialsoldaten mit gefangenen Herero. Das Museum hat somit einen Teil unserer Kritik an der Vitrine aufgenommen: Das Bild zeigt deutsche Soldaten als Täter und rückt so die Uniform in einen historischen Kontext.

Besonders viel über diesen historischen Kontext erfahren die Besucher*innen jedoch weiterhin nicht (es sei denn, sie greifen auf den museumseigenen Audioguide zurück). Im Begleittext zur Uniform des Kolonialsoldaten heißt es: „Die Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika führte 1904–1908 mit bis dahin ungekannter Brutalität Krieg gegen die Völker der Herero und Nama. Vom um 1904 auf rund 80.000 bis 100.000 geschätzten Hererovolk lebten 1911 nur noch 15.130 Personen. Etwa 10.000 Nama starben.“ Über die Ursachen und die Folgen des Krieges im kolonialen Namibia gibt der Text keine weitere Auskunft. Immerhin endet er jedoch mit dem Satz „Historiker stufen den Vernichtungskrieg gegen die Herero heute mehrheitlich als Völkermord ein.“

„…wird heute mehrheitlich als Völkermord bewertet“

Mit diesem Satz hat das Museum einen weiteren Kritikpunkt des Audioguides aufgegriffen: In der Dauerausstellung tauchten im Zusammenhang mit dem Krieg in Deutsch-Südwestafrika bisher an keiner Stelle Begriffe wie „Völkermord“, „Genozid“ oder „Vernichtungskrieg“ auf (Track 5.10 – Fotoalbum). Dabei hatte sich nur zwei Jahre vor Eröffnung der Ausstellung der Ausbruch des Krieges zum hundertsten Mal gejährt. Postkoloniale Aktivist*innen nahmen dies zum Anlass, von der Bundesregierung eine offizielle Anerkennung des Genozids zu fordern. Auch die Sonderausstellung „Namibia – Deutschland. Eine geteilte Geschichte“, die das DHM vom 25. November 2004 bis 24. April 2005 zeigte, benannte den Völkermord explizit als solchen. Bis diese Begriffe Eingang in die Dauerausstellung fanden, dauerte es allerdings zehn Jahre. Neben dem Text zur Uniform wurde auch auf der Überblickstafel 5.10.1. ergänzt: „Geleitet von einem rassistischen Überlegenheitsgefühl, waren in den Kolonien wirtschaftliche Ausbeutung und sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung. Auflehnung wurde drastisch bestraft. Die Niederschlagung von Aufständen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika endete mit dem Tod Zehntausender und wird heute mehrheitlich als Völkermord bewertet.“ Auffällig ist zweierlei: Erstens tauchen in diesen Sätzen keine Subjekte auf, so dass die Verantwortlichen von Gewalt und Tod unsichtbar bleiben. Und zweitens beruft sich das DHM in beiden Formulierungen auf die Aussagen externer Personen bzw. Historiker*innen. Zu einer eigenen Stellungnahme ist das Museum offensichtlich immer noch nicht bereit.

Das ausgetauschte Fotoalbum

Auf dem Tisch in der Mitte der Glasvitrine lag bis zur Überarbeitung des „Kolonialkastens“ ein Album mit Fotografien aus dem Krieg der Deutschen gegen Herero und Nama. Die aufgeschlagene Seite zeigte drei Bilder, die gefangene, gefolterte und ermordete Menschen abbildeten. Der Besitzer des Albums hatte „Schwerverbrecher“ dazu geschrieben. Der Audioguide geht an dieser Stelle auf die vielfältigen Probleme ein, die die nahezu unkommentierte Ausstellung des Albums mit sich brachte. Das Museum folgte in seiner Präsentation und Kommentierung der Perspektive der Täter, die selbst auf den Bildern unsichtbar blieben (Track 5.10 – Fotoalbum). Nun hat das DHM das Album durch ein anderes ersetzt, das aus der Zeit stammt, als ein internationales Truppenaufgebot in China den sogenannten „Boxeraufstand“ niederschlug. Auf der aufgeschlagenen Seite sehen wir zwei Fotografien: Die eine zeigt europäische Soldaten im Kreis chinesischer Polizisten, die andere die Hinrichtung eines Chinesen.

Wie im Album aus DSWA wird auch hier wieder eine brutale und entmenschlichende Ermordung abgebildet. Anders als auf den Fotos aus dem Album aus Deutsch-Südwestafrika sind hier allerdings nicht nur die Opfer des brutalen Kolonialkrieges, sondern auch die Täter zu sehen, auch wenn es sich in beiden Fällen um französische und nicht um deutsche Kriegsteilnehmer handelt. Zudem geht der neue Begleittext im Gegensatz zum älteren auf das Spezifische der Kriegsfotoalben ein: „Mit sarkastischen Kommentaren versehene Fotografien von Hinrichtungsszenen sowie von Gefangenen und Getöteten sind während des gesamten 20. Jahrhunderts und darüber hinaus Gegenstand der Fotoalben von Soldaten.“ Ob dieser Satz allerdings ausreicht, um mit der Täterperspektive zu brechen, ist fraglich. Das Museum setzt diese Fotoalben ein, um die Brutalität der Kolonialkriege aufzuzeigen und das Leid der Opfer darzustellen. Doch lässt sich dieses Leid mit Objekten ausdrücken, die ursprünglich den Tätern und ihren Bekannten und Angehörigen als Erinnerungsstücke dienten? Die im Audioguide aufgeworfenen Fragen bleiben weiterhin offen: Wie geht man mit solchen Quellen in einer Ausstellung um? Was kann man zeigen? Und wie kann man es zeigen und besprechen? Wie lässt sich der historische Zusammenhang verdeutlichen, in dem das Album entstand, und gleichzeitig die Erinnerung und Würde der Opfer wahren, die darin zu sehen sind?

Ein neues Plakat

Die Ausstellungsmacher*innen haben nicht nur zahlreiche Objekte aus dem „Kolonialkasten“ entfernt, sondern auch eins hinzugefügt: ein Plakat, das in der Mitte der Vitrine hängt. In leuchtenden Farben präsentiert es eine Frau mit breiter Nase, vollen Lippen und nacktem Oberkörper unter der Überschrift: „Passage Panoptikum. 50 wilde Kongoweiber. Männer und Kinder in ihrem aufgebauten Kongodorfe. Ohne extra Entree.“ Es handelt sich um ein Werbeplakat für eine sogenannte „Völkerschau“, die 1913 im Berliner Passage Panoptikum stattfand.

Auch hier stellt sich die Frage, ob – und wenn ja, wie – ein Museum ein Objekt präsentieren sollte, das so offensiv rassistische und sexistische Botschaften vermittelt. Der Begleittext erwähnt zwar die Zurschaustellung von Menschen als „exotische Sehenswürdigkeiten“ oder zu „propagandistischen Zwecken“, doch über diese Menschen, ihren Alltag und ihre Geschichten erfahren wir nichts – obwohl inzwischen eine umfangreiche Forschungsliteratur über solche kolonialistischen Shows und über die Lebenswege von Zurschaugestellten vorliegt.

Die Platzierung des Plakats als auffälliger Blickfang im Zentrum der Vitrine trägt nicht dazu bei, den kolonialen Blick zu brechen – im Gegenteil, es scheint, als sollte das Plakat abermals den Zweck erfüllen Publikum anzulocken, nur diesmal eben Museums- statt Panoptikumsbesucher*innen.

Zudem leuchtet es nicht ein, warum das DHM das Plakat an dieser Stelle der Ausstellung zeigt. Bei aller Uneindeutigkeit verweisen die anderen Objekte im „Kolonialkasten“ (mit Ausnahme der Kaffeedosen und der Kolonialuhr) auf Ereignisse, die in den Kolonien stattfanden. Wenn überhaupt, dann müsste das Plakat in dem Ausstellungsabschnitt hängen, in dem es laut Texttafel um die „Sehnsucht nach fernen Welten“ geht – im Raum mit dem sogenannten „Kaiserpanorama“. Hier setzt unser Audioguide an, um den Zusammenhang zwischen visueller Kultur im Kaiserreich und Kolonialismus zu erklären, wobei er auch auf die „Völkerschauen“ eingeht (Track 5.4 – Kaiserpanorama). Wie die zahlreichen anderen Tracks, die sich nicht auf den „Kolonialkasten“, sondern bewusst auf andere Ausstellungsabschnitte beziehen, macht auch dieser Track deutlich, dass sich Kolonialismus eben nicht nur in den Kolonien abspielte.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Änderungen in der Dauerausstellung des DHM unsere Kritik an deren Inhalten zwar punktuell aufnimmt, die meisten Probleme letztlich jedoch nicht löst oder an einigen Stellen sogar eher „verschlimmbessert“. Vor allem aber ändert sich die Erzählweise der Ausstellung dadurch nicht grundlegend: Die Kolonialgeschichte wird weiterhin nicht in ihrer engen Verflechtung mit der deutschen Geschichte erzählt, sondern davon abgetrennt und in eine Vitrine gesperrt.